Varel, 01. Januar 2019. Kleinstadt-Blues. Es stürmt und regnet leicht. Ein Silvestertag mit Jahresrückblicken 2018 liegt hinter mir. Und – etwas mehr als zwei Jahre im Vareler Stadtrat. Darüber könnte ich ein ganzes Buch schreiben.
Ein politisches Sachbuch mit dem Titel „So gewinnt unsere Demokratie ihre Wähler in Varel zurück“ à la Timo Lochocki würde es sicherlich nicht werden. „Dreckiger Sumpf – Vertrauliche Aufzeichnungen und Bekenntnisse aus der Provinz“ – nein, das hatten wir schon mit Henning Venske. Auch kein Polit-Thriller wie „Operation Rubikon“ von Andreas Pflüger. Ich glaube, es würde eher ein Roman wie „Magical Mystery“ im Stile von Sven Regener werden. Ein Streifzug durch die Kommunalpolitik, geprägt von politischen Fehlplanungen, verhaltensoriginellen Menschen und kuriosen bzw. verstörenden Situationen und Diskussionen.
Sicherlich kein politisches Highlight in 2018
Dass unsere Wirtschaftsförderin – laut Medienberichten im Herbst 2018 – im kommenden Jahr in Kindergärten und Schulen verstärkt für den „Kramermarkt“ werben möchte, verursachte bei mir schon Unverständnis und ein irritiertes Kopfschütteln. Kitas und Schulen müssen werbefreier Raum sein und bleiben. Zumal Werbung in Kitas und Schulen in den meisten Bundesländern ohnehin verboten ist. Wir müssen unsere Kinder vor Vermarktungsinteressen überall dort schützen, wo es uns noch möglich ist.
Um es mit Urban Priol zu sagen „ Auf der nach unten offenen Kellertreppe geht’s immer noch ein paar Stufen weiter hinab in die Finsternis des Grauens…“ so auch zum Beispiel in der letzten Ausschusssitzung für Stadtentwicklung, Planung und Umweltschutz.
Diese Sitzung war nicht nur für mich verstörend. Diese Sitzung war bezeichnend für die politische Diskussion hier in Varel. Jürgen Rahmel und Peter Südbeck stellten die Option Biosphärenreservat für unsere Region vor und wollten Verwaltung und Kommunalpolitik zu einer ausführlichen Diskussion einladen. Zunächst sollten der Ausschuss informiert und später dann vielleicht der Rat der Stadt Varel entscheiden, ob er in 2019/2020 an einem Diskussionsprozess rund um das Thema Biosphärenreservat in unserer Region teilnehmen möchte.
Es ging lediglich um die Entscheidung, ob man an einem Diskussionsprozess teilnimmt!
Resultat der ernüchternden Wortwechsel: Herr Rahmel zweifelte an seinen kommunikativen Fähigkeiten. Meine Ratskollegin Cordula Breitenfeldt war angesichts der Wortbeiträge deprimiert. Mein Statement, resultierend aus der situationsbedingten Fassungslosigkeit über die Äußerungen so mancher RatskollegInnen:
Ich halte die heutige Diskussion hier im Ausschuss für eine umweltpolitische Bankrott-Erklärung. (Sigrid Busch, 18.12.2018)
Nachdenkliches auch in der letzten Ratssitzung
Das Statement meiner Ratskollegin Cornelia Papen zu ihrem Parteiaustritt gibt mir zu denken. Was bewegt einen tief in „seiner“ Partei verwurzelten Menschen, diese zu verlassen?
Über die Entfremdung vieler Ratsmitglieder von der Lebenswirklichkeit der Nicht-Ratsmitglieder denke ich oft nach. Ebenso darüber, wie es mit der Entfremdung der kommunalen Parteiführungen von der politischen Realität ihrer Parteibasis vor Ort aussieht.
Theorie versus Realität
Vor allem Volksparteien besitzen aufgrund der vielen Mitglieder vor Ort einen halbwegs repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung. Sie sind von der Orts- bis hin in die Bundesebene fest organisiert. Die Kandidatenauswahl für die Ämter erfolgt durch ein Wahlverfahren der Parteibasis. Zumindest wird dieser Basis im Grundsatz eine Einflussnahme eingeräumt. Also besitzen sie die besten Voraussetzungen, für eine bürger- und parteibasis-nahe Politik. So die Theorie.
Wie sieht es aber in der Realität aus? Wo und von wem werden die Entscheidungen getroffen? Leider oftmals nur in einem kleinen Kreis. In den Kreisverbänden ebenso wie auf bundespolitischer Ebene. Dabei findet auch immer öfter die Parteisatzung kaum noch Beachtung. Unabhängig davon, ob Teile der Parteibasis massiv protestieren.
Mögliche Konsequenzen für die Kommunalpolitik
Die Ausübung von Macht in der Kommunalpolitik über einen längeren Zeitraum birgt Gefahren. Der Glaube vieler Akteure wächst,
dass die allgemeinen Regeln für einen selbst nur eingeschränkt Gültigkeit haben. Für uns gelten nur die eigenen Regeln. Und diese haben die Bürger als alternativlose und einzige Lebenswirklichkeit anzuerkennen.
Anstelle demokratisch legitimierter Verfahren stehen daher immer öfter Vorlieben und Wünsche einzelner Personen im Vordergrund des politischen Handelns.
Die Entsolidarisierung der Parteispitzen hier vor Ort mit der Parteibasis – und leider oftmals auch mit der Bevölkerung – in politischen Prozessen ist nicht nur eine theoretische Gefahr. Wir alle können ein Lied davon singen. Wie viele Versprechungen seitens Politik und Verwaltung haben sich in den letzten Jahren als falsch erwiesen! Was wird tatsächlich von den örtlichen Medien noch kritisch hinterfragt?
Eines steht fest: Wir, die Akteure der kommunalen Politik, der Verwaltung und der Medien, verlieren stetig an Glaubwürdigkeit. Viele von uns haben ihre Suche nach dem eigenen blinden Fleck aufgegeben und können oder wollen den Blinkwinkel auf die Lebenswirklichkeit der Menschen in unserer Stadt nicht mehr ändern.
Politischer Kleinstadt-Blues
In den 80iger Jahren fand meine Wut über die desolaten gesellschaftlichen Realitäten ein Ventil in der Musik. In Liedern wie „London Calling“ von The Clash.
Für die Jüngeren unter uns: das Lied „London Calling“ ist kein Werbesong für die Hauptstadt des Vereinigten Königreichs. Der Song beschreibt vielmehr ein Endzeitszenario. Ein Ergebnis von realen und ausgedachten Katastrophen: Kriege, Hungersnöte, Klimakollaps, Umweltverschmutzung, Flut und einem Nuklearunfall. Der Refrain “London Calling” stammt aus einer BBC Sendung. Er spiegelt den Zeitgeist einer hoffnungslosen englischen Jugend und kritischer politischer junger Menschen hierzulande wieder.
Heute mache ich mir Luft und schreibe über den politischen Kleinstadt-Blues. Ein politisches Zeitporträt in unserer Stadt. Zugleich aber auch Ausdruck der Verunsicherung über die politisch-gesellschaftliche Entwicklung in unserer Region.
Vielleicht wird es ja auch eine neue Rubrik in meinem politischen Blog. Draußen zeigen sich die ersten Lichtblicke. Der Regen schwindet und so mancher Sonnenstrahl bahnt sich einen Weg.
Alles nur eine Frage der Zukunftsthemen für Varel
Was wird dieses Jahr 2019 politisch bringen? Welche Themen bestimmen die kommenden Neujahrs-Empfänge? Finden wir Lösungswege oder Antworten auf die Fragen:
Setzen Politik und Verwaltung die richtigen Rahmenbedingen für eine nachhaltige Innenstadt-Entwicklung oder schießen sie diese endgültig ins Aus?
Bekommen wir ein tragfähiges Konzept für die Sportstätten in unserer Stadt oder wird der Kunstrasenplatz realisiert quasi als „vorgezogenes Wahlgeschenk“ der Mehrheitsfraktion für die kommende Kommunalwahl?
Wird die Wohnraumproblematik langfristig durch die Einrichtung eines Eigenbetriebes gelöst oder sollen nur die sozialen Gemüter beruhigt werden?
Städtische Siedlungspolitik und regionale Raumordnung – steht das Eigeninteresse einzelner Grundbesitzer über dem städtischen Gemeinwohl vieler?
Stadtentwicklung: Wieviel Raum nehmen wir uns für kreative innovative Lösungen zu den Themen: Pflegenotstand, Krankenhausplanung und medizinische, pflegerische sowie therapeutische Versorgung in unserer Stadt? Stellen wir uns einer Diskussion mit den betroffenden Akteuren?
Setzt Politik und Verwaltung Rahmenbedingungen für die freie kulturelle Entwicklung in unserer Stadt oder will sie nur die Inhalte der Kultur bestimmen?
Wie gestalten wir Wirtschaftsförderung: innovativ, zukunftsorientiert und vielfältig – oder vielfach einfältig?
Themen für unsere Kleinstadt sind ausreichend vorhanden. Auch wenn gerade draußen der angesagte Sturm aufzieht, bin ich im Grunde zuversichtlich, dass es für unsere Stadt auch sonnige Zeiten geben kann.
Trotz politischem Kleinstadt-Blues – Zuversicht und Hoffnung
Wir sollten Varels Zukunfts-Themen kreativ gestalten, mutig verändern und dabei vielfältig auf die Wünsche der Bürger unserer Stadt eingehen. Ich bin überzeugt, dass Spielräume hierfür vorhanden sind – zwar nur kleine, jedoch oft größer, als wir uns das häufig selbst zugestehen.
Politik und Verwaltung sollten sich trauen, offene Fragen zu stellen und sie ehrlich zu beantworten: Was ist möglich? Was ist wahrscheinlich? Was wünschen wir uns? Was wollen wir verhindern? Wohin können Entwicklungen führen? Wie hilft uns die Forschung? Welche Rolle spielt die Wirtschaft? Wie kann bzw. wie muss die Verwaltung und Politik handeln?
Aber jeder einzelne von uns sollte sich unabhängig von Verwaltung und Politik fragen und persönliche Antworten finden: Was kann ich als Bürger selbst tun? Wie kann ich mich einmischen? Wie kann ich gestalten?
Wenn jeder nach seinen Möglichkeiten einen Teil dazu beiträgt, ist am Ende dieses Jahres vielleicht der Kleinstadt-Blues hinweggefegt wie der heutige Sturm über Friesland.
Mich erinnert das mal wieder an ein Lied von neues tun.
“ kleine Stadt im Grünkohlland, gegen alles Neue“
Lass uns versuchen daraus eine kleine Stadt im Grünkohlland offen für alles Neue zu machen.